Stuttgarter Genesungsgeschichten

So klingt das Leben


Anne Becker ist von Geburt an schwerhörig. Trotzdem lernt sie sprechen. Mit 33 Jahren bekommt sie durch  Cochlea Implantate im Klinikum Stuttgart die Chance, erstmals eine Welt voller Töne zu erleben.

„Meine Mutter hat schnell gemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmte“, erinnert sich Anne Becker, „ich war zwar total aufmerksam und habe viele Geräusche gemacht, doch immer nur, wenn ich etwas mit den Augen mitbekommen hatte“. Anne war noch kein Jahr alt, als ihre Mutter Heidrun Becker erfuhr, dass ihre Tochter unter hochgradiger Schwerhörigkeit litt. Für ihre Eltern war das erstmal ein Schock – Inklusion und Förderung waren 1984 in Deutschland noch kein Thema. Für Anne begann ein Leben voller Erschwernisse, fast ohne Stimmen und Geräusche, bis sie 2016, mit 33 Jahren, durch ein Cochlea Implantat – eine Hörprothese, die die Hörschnecke ersetzt - zum ersten Mal (richtig) besser hören konnte.

Aufgrund eines genetischen Defekts konnten sowohl Anne Becker wie auch ihr jüngerer Bruder von Geburt an nur wenig hören. Die Ärzte prognostizierten ihren Eltern damals, dass die Geschwister niemals richtig sprechen lernen würden. „Doch meine Mutter gab nicht auf, engagierte sich in der Frühförderung und baute sich ein eigenes Netzwerk aus Logopäden und Betroffenen auf“, erzählt Anne Becker. Das Mädchen selbst lernte nie zu gebärden, sondern nur die Lautsprache. Mit viel Ehrgeiz lernte sie sprechen, verstand andere Menschen durch Lippenlesen und besuchte eine Regelschule anstatt einer speziellen Einrichtung für Schwerhörige. Eine leichte Kindheit hatte sie trotzdem nicht. Ihre Mitschüler hänselten sie. „Ich wusste, dass ich durch meine Schwerhörigkeit aus der Rolle falle“, sagt Anne Becker zurückblickend, doch ihr setzte die Situation damals trotzdem zu. Geholfen haben ihr durch diese schwere Zeit ihr ebenfalls schwerhöriger Bruder, der ihre Situation verstand, ihre starke Mutter und ein USA-Aufenthalt. „Dort habe ich gelernt, dass ich meinen Platz finden muss.“

Anne Becker kämpfte weiter: Beruflich wie privat war sie trotz ihrer Hörbehinderung erfolgreich. Sie studierte Wirtschaft an der Berufsakademie Stuttgart mit Daimler-Chrysler als Partner und stieg nach erfolgreichem Abschluss bei Daimler in der Personalpolitik ein. Sie beriet Mitarbeiter, leitete Projekte und führte Schulungen und Workshops durch. Doch mit Ende 20 war ihre Kraft zu Ende. Immer wieder traf sie auf Kollegen, die die Komplexität ihres Handicap nicht nachvollziehen konnten. Auch ihr damaliger Partner konnte ihre Situation nicht wirklich verstehen. „Irgendwann war ich einfach fertig und erschöpft“, beschreibt die junge Frau ihre schwere Zeit.

Ein Implantat erleichtert das Hören

Bei einer privaten Feier lernte Anne Becker dann ein älteres Ehepaar kennen, das lange Schwerhörige unterrichtet hatte. Sie waren erstaunt über Annes Sprechfähigkeiten. „Lassen Sie sich untersuchen“, rieten sie ihr. Beim Tag der Offenen Tür des Cochlea Implantat-Zentrums im Klinikum Stuttgart lernte Anne Becker Dr. Christiane Koitschev kennen, die ebenfalls erstaunt über Annes Kommunikationsfähigkeiten war. „Bei dem Gehör, das sie hatte, war das nicht selbstverständlich“, erinnert sich Christiane Koitschev, „ihr ungewöhnlicher Lebensweg beeindruckte mich sehr.“ Auch die Ärztin des Klinikums Stuttgart empfahl ihr ein Implantat.

Das Cochlea Implantat (CI) wird bei tauben und hochgradig schwerhörigen Menschen  in das Innenohr, die Hörschnecke, eingesetzt. Es ersetzt die Funktion der Hörschnecke , die die Schallwellen  in unserer Umgebung erfasst und die bei den meisten schwerhörigen Menschen nicht richtig funktioniert. „Ziel ist nicht, wieder  perfekt zu hören“, sagt Dr. Koitschev, „sondern Betroffenen das Hören zu erleichtern, deshalb ist eine realistische Herangehensweise wichtig.“.

Operation und Rehabilitation finden bei einer CI-Versorgung  immer nach einem standardisierten Konzept statt. Meistens wird zuerst ein Ohr implantiert, bei einigen Patienten dann  später auch das andere. So haben Betroffene die Möglichkeit, langsam wieder eine Welt mit Geräuschen und Sprache kennenzulernen und sich an sie zu gewöhnen. Eine gute Beratung der Betroffenen spielt dabei eine große Rolle. „Wir haben alles so gemacht, wie Frau Becker das wollte“, sagt Christiane Koitschev. Auch bei Anne Becker wurde 2016 zuerst nur das linke Ohr implantiert. „Es hätte nicht besser laufen können“, erinnert sie sich. Nach einem kurzen Heilungsprozess wurde einige Wochen später das Implantat eingeschaltet - ein Moment, vor dem sie Angst hatte. Doch es passierte erstmal wenig. Das Ohr und das Implantat brauchten Zeit, um sich einzuspielen. Anne Becker ging nach ihrem Termin im CI-Zentrum mit ihrer Mutter essen. Und da passierte es: Beim Besuch eines kleinen italienischen Restaurants in der Stuttgarter Innenstadt hörte sie Töne, die sie noch nie gehört hatte. „Ich wusste, Besteck und Gläser klirren“, sagt Anne Becker, „aber das jetzt zum ersten Mal zu hören und wirklich zu begreifen, war für mich ganz unglaublich".. Langsam begann sie die Welt neu zu entdecken. „Es gab noch viele Momente, in denen ich realisiert habe, was ich durch das Implantat jetzt alles hören kann“. Drei Monate später lässt sie sich das andere Ohr implantieren. Bei Nachuntersuchungen erreicht sie regelmäßig sehr gute Hörergebnisse. Christiane Koitschev: „Ihre Werte sind phänomenal gut. Frau Becker erreicht Werte, die selbst für jemanden, der nicht schwerhörig geboren wurde, nicht selbstverständlich sind.“

An guten Tagen versteht Anne Becker jetzt bis zu 70 Prozent der Sprache um sie herum. Manchmal benötigt sie zwar immer noch die Lippen anderer, um wirklich alles zu verstehen. Aber normalerweise ist ihre Hörfähigkeit nun so groß, dass sie telefonieren und sich mit jemandem unterhalten kann, der hinter ihr steht. „Mein Alltag ist dadurch um einiges einfacher geworden und ich habe ein großes Stück an Lebensqualität gewonnen“, freut sie sich. Inzwischen lebt die junge Frau in der Nähe von Böblingen und ist Mutter der kleinen Elli. Gemeinsam mit ihrer zweijährigen Tochter entdeckt sie die Welt. „Ohne das Implantat könnte ich meine Rolle als Mutter nicht so gut ausfüllen.“ Dass Elli normal hört, war für Anne Becker eine große Erleichterung. Durch ihre Tochter lernte auch sie viele neue Geräusche: „Es ist einfach unglaublich, wie viel Geräusche ein Baby den ganzen Tag so macht.“