Stuttgarter Genesungsgeschichten

Innerlich gestützt

Werne Hemmeter auf seinem Segelboot

Durch Zufall wird bei Werner Hemmeter eine Erweiterung der Aorta mit mehreren Ausbeulungen diagnostiziert. Seine sportliche Konstitution wird ausschlaggebend für den Einsatz einer Aortenprothese am Klinikum Stuttgart.

Locker unter den Arm geklemmt, trägt Werner Hemmeter die Persenning seines Segelboots vom Segelhafen in Lindau am Bodensee zu seinem Haus. Er hat die Abdeckung entfernt, damit das Segelboot aus Holz trocknen kann, bevor der nächste Regen kommt. Auf dem kurzen Weg erzählt er, wie viel Arbeit und Hingabe nötig sind, um ein Segelboot aus Holz zu pflegen. Für den 71-Jährigen sind die Arbeiten an seinem Boot „Feuervogel“ und die Spaziergänge durch seine Heimatstadt nicht mehr selbstverständlich.

Es ist Anfang 2016, als Werner Hemmeter wie jedes Jahr zu einem medizinischen Checkup geht. Für den ehemaligen Leistungssportler im Segeln gehört diese Untersuchung seit 40 Jahren zu seinem Leben. Hinzu kommt, dass er mit seinen Kindern einen Urlaub in Südafrika plant – eine willkommene Auszeit vom alltäglichen Stress. Werner Hemmeter saniert als Architekt Häuser aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Mehrere Gebäude in Lindau tragen seine Handschrift.

Gefährliche Erweiterung der Aorta

Doch aus der Reise wird nichts – denn Werner Hemmeter leidet an einer lebensgefährlichen Erweiterung der Aorta und der Beckenarterien mit mehreren Aneurysmen, Ausbeulungen. Wie bei vielen Patienten ein Zufallsbefund. „Ich litt unter Herzrhythmusstörungen und einem extrem erhöhten Blutdruck“, erzählt er. Ungewöhnlich für einen aktiven und sportlichen Mann, der auf den Baustellen herumklettert und schon viele Regatten in ganz Europa gesegelt ist.

Zu einer Erweiterung der Aorta und der Entstehung von Aneurysmen kann es durch eine erbliche Anlage, Bluthochdruck, Rauchen und Übergewicht kommen. „Zudem nimmt die Elastizität des Bindegewebes mit den Jahren ab“, erklärt Professor Dr. Thomas Hupp, Ärztlicher Direktor der Klinik für Gefäßchirurgie, Gefäßmedizin und Transplantationschirurgie am Klinikum Stuttgart. Menschen mit einer genetischen Bindegewebsschwäche wie beim Marfan-Syndrom haben ein stark erhöhtes Risiko für ein Ausbeulen der Schlagader. Wenn eines der Aneurysmen platzt, kann der Betroffene innerlich verbluten. „Das ist das Todesurteil“, sagt Professor Hupp. Der normale Durchmesser der Bauchschlagader beträgt beim Mann 18 bis 20 Millimeter, bei der Frau sind es 16 bis 17 Millimeter.

Werner Hemmeter auf seinem Balkon
Werner Hemmeter auf seinem Segelboot
Werner Hemmeter auf seinem Segelboot

Behandlung durch einen Spezialisten

Als Werner Hemmeter Patient im Klinikum Stuttgart wird, hat seine Bauchschlagader einen maximalen Durchmesser von 80 Millimeter. Zusätzlich ist die Schlagader im Bereich der Brust und der Nieren vergrößert und er hat große Aneurysmen an den Beckenarterien. Über einen befreundeten Arzt hat er erfahren, welche Expertise Professor Dr. Götz M. Richter, Ärztlicher Direktor der Klinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie am Klinikum Stuttgart, beim Einsatz von Aortenprothesen besitzt und ihm war klar, dass er sich nur von einem Experten behandeln lassen will. Die Alternative zur Prothese ist ein offener chirurgischer Eingriff, die Crawford- Operation, bei der die gesamte Aorta vom Brust- bis zum Bauchraum operativ freigelegt und ersetzt werden muss. Die sogenannten Stent-Prothesen stützen die Gefäße von innen (endoluminal) und verhindern so, dass sie reißen.

„Eigentlich war ich mit meinen damals 70 Jahren zu alt für eine Aortenprothese“, sagt Werner Hemmeter. Doch jetzt zahlt sich aus, dass er immer aktiv war. Denn dank seiner sportlichen Konstitution ist er für den sogenannten endovaskulären Eingriff geeignet. „Entscheidend war auch, dass Herr Hemmeter Nichtraucher ist“, betont Professor Richter. Ihm soll eine sogenannte fenestrierte Stent-Prothese eingesetzt werden. Diese Prothese hat Abgänge für alle Organarterien. Bei Werner Hemmeter wird sie einen halben Meter lang sein.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Eng eingebunden in die Behandlung und Planung der Operation ist das Team rund um den Gefäßchirurgen Professor Hupp. Der Ablauf der Therapie mit Aortenprothesen ist vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) geregelt und gibt vor, was am Klinikum Stuttgart seit vielen Jahren selbstverständlich ist: die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Radiologen und Gefäßchirurgen.

Jede Prothese wird in London individuell von Hand angefertigt, mit allen Abgängen für die Organ- und kleinsten Blutgefäße. Grundlage sind die detaillierten Aufnahmen der Angio-Computertomographie. Bei diesem radiologischen Untersuchungsverfahren werden die Blutgefäße untersucht und Veränderungen wie Aneurysmen sichtbar gemacht. Den Patienten wird hierzu ein Kontrastmittel gespritzt. „Als junger Mann habe ich durch ein jodhaltiges Kontrastmittel einen anaphylaktischen Schock erlitten“, erzählt Werner Hemmeter. Ängstlich geht er in die Untersuchung, vertraut aber der Expertise von Professor Richter. Bevor ihm das Kontrastmittel verabreicht wurde, hat er ein Medikament erhalten, welches ihn vor dem anaphylaktischen Schock schützt und trotzdem wird ihm extrem heiß und ein pelziges Gefühl benetzt seinen Mundund Rachenraum. Aber er hält durch. Rückblickend sei das die einzige Situation während der gesamten Behandlung gewesen, in der er Angst verspürt habe. „Mein Vertrauen in das Ärzteteam war sehr groß. Der komplexe endovaskuläre Eingriff war die einzige Chance für mich“, sagt er.

Erst heute kann er die Symptome, die er vor der Operation bemerkte, richtig einordnen. Treppensteigen fiel ihm enorm schwer. „Heute kann ich sogar zwei Stufen auf einmal hinauf in meine Wohnung nehmen.“

Zwei große Operationen

An einem heißen Sommertag im Juli 2016 beginnt das radiologisch-gefäßchirurgische Team um Professor Richter und Professor Hupp den zwölfstündigen Eingriff. Über zwei acht Zentimeter große Schnitte an den Leisten werden die Katheter eingeführt und die einzelnen Teile der Prothese Stück für Stück eingesetzt. „Die Teile werden ineinandergeschoben und expandieren im Gefäß“, sagt Professor Richter. Die moderne Angiografieanlage ermöglicht es den Radiologen, den Sitz der Prothese jederzeit zu kontrollieren und anzupassen, sodass keine Gefäße abgetrennt werden, wodurch es unter anderem zu einer Lähmung an der Wirbelsäule kommen kann.

Die Spezialprothese reicht bis in beide Beckenarterien und versorgt die Nieren, den Darm, die Leber und den Magen sowie alle Beckenorgane. An einer Nierenarterie des Patienten kommt es zu einem Notfall. Die Prothese sitzt nicht korrekt – eines der Risiken bei diesem Eingriff. Nun heißt es schnell reagieren, denn sonst sterben Teile der Niere ab und es besteht Lebensgefahr. Die Prothese wird gerichtet, doch nun kann der obere Teil an der Brustarterie nicht mehr eingesetzt werden. Dafür ist eine weitere Operation einen Monat später nötig. Diesmal wird der Katheter mit den Einzelteilen der Prothese über Schnitte an der Achselhöhle eingeführt.

Die Operationen sind sehr anstrengend: 14 Kilo hat Werner Hemmeter abgenommen und die Muskeln des Sportlers sind stark geschwunden, aber die Prothese sitzt und die ersten Untersuchungen sind positiv. Sein Blutdruck sinkt und seine Herzrhythmusstörungen lassen nach. Zeit für ihn, an den Bodensee zurückzukehren.

Regelmäßiges Training

Dreimal täglich trainiert er für 15 Minuten seine Muskeln, einmal wöchentlich unter der Anleitung einer Physiotherapeutin. Von seiner Arbeit als Segellehrer kennt er viele Übungen – und er hört auf seinen Körper. „Bereits im Krankenhaus habe ich weniger Schmerzmittel als verschrieben eingenommen“, erzählt er. Dieses Gefühl wird ihm kurze Zeit später das Leben retten. Mit starken Schmerzen wird er im November 2016 als Notfall ins Klinikum Stuttgart eingeliefert. Die Ärzte an der Klinik in Lindau vermuten, dass sich die Prothese verschoben hat – doch sie irren. Werner Hemmeter leidet an einer Vergiftung durch die Medikamente. Bis heute sind seine Leberwerte erhöht. „Wenn ich mehr Medikamente eingenommen hätte, wäre die Leberentzündung vielleicht noch stärker ausgefallen“, sagt er. Trotz der Rückschläge und der schweren Erkrankung hat sich Werner Hemmeter seine positive Lebenseinstellung bewahrt. Jeden, den er trifft, grüßt er mit einem Lächeln. „Kleinigkeiten wie ein freundliches Wort haben nun einen anderen Stellenwert in meinem Leben.“

Beim Training, aber auch im Alltag, gibt sein Körper das Tempo vor – selbst nachdem Werner Hemmeter von Professor Richter und Professor Hupp die Freigabe für alle Tätigkeiten erhalten hat und alle Nachunteruntersuchungen positiv waren. Halbjährlich wird der Sitz der Prothese im Ultraschall kontrolliert, denn die einzelnen neuen Seitenäste könnten sich verschließen. Zudem besteht die Gefahr, dass sich die Prothese immer noch verschiebt.

Natürliche Sperre

Für den passionierten Segler war das Springen vom Steg auf das Boot ein routinierter Akt. „Nach der OP verspürte ich in meinem Körper eine natürliche Sperre, ähnlich war es beim Schwimmen“, erzählt er. Erst mit der Zeit löste sich diese Sperre und Werner Hemmeter verlor die Angst. Heute schwimmt er im Bodensee und springt wie selbstverständlich auf sein Boot, um die Persenning abzunehmen.

Stent-Prothesen

Am Klinikum Stuttgart werden nicht nur Patienten aus der Region Stuttgart mit solchen komplizierten fenestrierten Stent- Prothesen versorgt. 30 solcher Prothesen, neben 70 „einfachen“ Prothesen, setzt das Team aus Radiologen und Gefäßchirurgen im Jahr ein und zählt die höchste Patientenzahl in Deutschland. Die fenestrierten Stent-Prothesen haben Abgänge für alle großen Organgefäße und reichen bis ins Becken hinein. Die Prothesen haben eine voraussichtliche Lebensdauer von mehreren Jahrzehnten und bestehen aus einem Kunststoff mit einer Nickel- Titan-Legierung, auch Nitinol genannt. Dieses Legierung hat ein Gedächtnis: nach dem Zusammendrücken kehrt sie in ihre ursprüngliche Form zurück.

Jährlich werden 180 Patienten mit Erweiterungen und Aneurysmen an der Aorta versorgt. 80 von ihnen werden mit der klassischen offen-chirurgischen Methode behandelt. Dabei werden die Aneurysmen mit einer sogenannten Dacron-Prothese aus Kunststoff von innen geschient. 30 bis 40 Jahre können Patienten durchschnittlich mit dieser Prothese leben. Der Eingriff ist vor allem für ältere Patienten riskant, weil der gesamte Bauchraum geöffnet werden muss. Der stationäre Aufenthalt beträgt bis zu zwei Wochen.