Stuttgarter Genesungsgeschichten

Verbunden

Ehepaar Lieb

Als Paar kann man sich viele Geschenke machen – Blumen, Schmuck, Reisen oder Schokolade. Renate Lieb aber spendete ihrem Mann eine Niere.

Seit 33 Jahren leidet ihr Mann Eberhard Lieb an einer Glomerulonephritis – einer chronischen Entzündung der Nierenfilterchen. „Dabei zerstören Antikörper diese kleinen Filter in der Niere, die auch Glomeruli genannt werden“, erklärt Professor Dr. Vedat Schwenger, Ärztlicher Direktor der Klinik für Nieren-, Hochdruck und Autoimmunerkrankungen und Leiter des Transplantationszentrums Stuttgart am Klinikum Stuttgart. In den über eine Million Glomeruli jeder Niere werden Mineralstoffe, Stoffwechselprodukte, Eiweiße und Flüssigkeiten aus dem Blut gefiltert und über den Harn ausgeschieden. Sind sie entzündet, erfüllen sie ihre Aufgabe nicht mehr. Erste Anzeichen sind Blut oder Eiweiß im Urin oder ein schäumender Urin. Zudem leiden die Patienten unter erhöhtem Blutdruck. Die Nieren werden insuffizient und der Patient dialysepflichtig. So wie bei Eberhard Lieb.

Durch eine bewusste Lebensführung und regelmäßige Kontrollen der Blut- und Urinwerte beim niedergelassenen Nephrologen hat es Eberhard Lieb geschafft mit der Krankheit zu leben. Einzig nach langen Arbeitstagen, die er oft draußen im Wald verbracht hat, fühlte er sich schlapp und energielos. In den letzten Jahren jedoch wurde die Abgeschlagenheit zum ständigen Begleiter – die Nieren stellten ihren Dienst nach und nach ein.
„Der niedergelassene Nephrologe hat vor zweieinhalb Jahren mit uns darüber geredet, was die weiteren Schritte sind: Dialyse und Transplantation“, erzählt Eberhard Lieb. Nach umfassender Aufklärung und vielen Gesprächen innerhalb der Familie wird dem Ehepaar eines schnell klar: eine Dialysebehandlung ist keine Option. Selbst ein Besuch bei einem Patienten mit der sogenannten Bauchfelldialyse, der ihnen von seinen guten Erfahrungen berichtet, kann sie nicht umstimmen: keine Dialyse.

Entscheidung für die Spende

Aus dem Bauch heraus entscheidet Renate Lieb, ihrem Mann eine Niere zu spenden. Zu viel stand auf dem Spiel, erzählt sie heute und man spürt welche besondere Verbundenheit das Paar zusammenhält. 40 Jahre Ehe mit allen Höhen und Tiefen, vier gemeinsame Kinder und drei Enkelkinder. „Wir wollen zusammen alt werden und die gemeinsame Zeit genießen“, sagt Renate Lieb. Während sie frei erzählt, wie sie zur ihrer Entscheidung gelangt ist, fällt es Eberhard Lieb schwer, seine Gefühle in Worte zu fassen. Er vergleicht die Spende mit Weihnachten – obwohl er weiß, dass dieser Vergleich nicht mal annähernd zutreffend ist. „Mir war immer wichtig, dass sie sich nicht gedrängt fühlt, sondern ihre Entscheidung freiwillig trifft“, erzählt er.

Diese Freiwilligkeit ist ein entscheidendes Kriterium für eine Organspende. „Die Spender werden mehrfach aufgeklärt und befragt, ob ihnen das Ausmaß einer Nierenspende bewusst ist“, sagt Professor Schwenger. Eine Organspende unterliegt in Deutschland sehr strengen Regeln. So soll der Handel mit Organen unterbunden werden. Spender und Empfänger müssen in einem engen emotionalen Verhältnis stehen, also zum Beispiel eng befreundet, verheiratet oder Geschwister sein. Mit verschiedenen Befragungen durch Ärzte, Psychologen und die Ethikkommission der Ärztekammer Baden-Württemberg werden Freiwilligkeit und emotionale Bindung überprüft.

Ehepaar Lieb
Familie Lieb
Familie Lieb

„Beinahe jede zweite Lebendspende müssen wir ablehnen, weil die Spender nicht gesund sind“, sagt Professor Schwenger. Sie leiden unter Bluthochdruck, Übergewicht, rauchen oder haben Diabetes. Um bisher unentdeckte Krankheiten ausschließen zu können, wird der potenzielle Spender vollständig untersucht. Denn auch für den Spender besteht ein potenzielles Gesundheitsrisiko – wie Bluthochdruck und Nierenfunktionseinschränkung. „Für mich haben diese Risiken nie eine Rolle gespielt“, sagt Renate Lieb. Nur das Zusammenhalten der großen Familie und die gemeinsame Zukunft seien entscheidend gewesen.

Die Blutgruppen stimmen überein

Im Sommer 2016 wird das Ehepaar Lieb erstmals im Transplantationszentrum am Klinikum Stuttgart betreut. Die Oberflächenmerkmale der Nieren, die sogenannten HLA-Merkmale, stimmen zwar nicht überein, aber die Blutgruppen des Paares. Bei einer Lebendspende sind die Chancen für eine erfolgreiche Transplantation und die Lebenserwartung höher als bei einer Spende von einem Verstorbenen. Durchschnittlich 15 Jahre arbeitet ein Nierentransplantat, zum Teil aber auch sehr viel länger. Bei einer postmortalen Spende sind es zwei Jahre weniger. 30 bis 40 Prozent aller transplantierten Nieren im Klinikum  Stuttgart sind Lebendspenden.
Dialysepatienten warten in Deutschland durchschnittlich acht Jahre auf eine Nierentransplantation. In der Zwischenzeit übernimmt die Dialyse die Reinigung des Blutes. Einige Patienten können das zuhause mit der sogenannten Bauchfelldialyse selbst übernehmen, andere müssen zur Hämodialyse ins Klinikum Stuttgart kommen. „Die Patienten kommen dann dreimal die Woche für fünf Stunden zu uns“, erklärt Professor Schwenger. Ein normales Leben mit Arbeit, Freizeit und Familie ist kaum noch möglich.

Strenge Regeln für die Organspende

Die Verteilung der Spenderorgane übernimmt für acht europäische Länder die gemeinnützige Organisation Eurotransplant. Jeder Patient wird ab der ersten Dialyse bei Eurotransplant gelistet – auch wenn ein Spender schon zur Verfügung steht. „Es gibt klare Qualitäts- und Sicherheitsstandards, die eingehalten werden müssen“, betont Professor Schwenger. Denn obwohl die Spendenbereitschaft hoch ist, bleibt bei vielen Menschen die Skepsis, ob bei der Organspende alles korrekt abläuft. Der Leiter des Transplantationszentrums wünscht sich nicht nur deshalb mehr Aufklärung über Organspenden.

Operation am Valentinstag

Sieben Monate nach dem ersten Termin am Klinikum Stuttgart wird das Ehepaar Lieb operiert – am 14. Februar 2017, dem Valentinstag, dem Tag der Liebenden. Zwei Operationsteams aus der Klinik für Urologie und Transplantationschirurgie unter Leitung ihres Ärztlichen Direktors Professor Dr. Ulrich Humke und zwei Anästhesieteams stehen bereit. Ihr Einsatz erfolgt versetzt. Zunächst wird die Entnahme der Spenderniere bei Renate Lieb vorgenommen. Die vorausgegangenen Untersuchungen haben die rechte Niere als das hierfür geeignete Organ identifiziert. Sobald die Niere von den versorgenden großen Bauchadern abgetrennt ist, läuft die Zeit, denn nun bekommt das Organ keinen Sauerstoff mehr. Um es lebensfähig zu erhalten, wird die Niere innerhalb weniger Sekunden in ein vorbereitetes steriles Eiswasserbad gelegt und dort über ihre Blutgefäße mit einer kalten Konservierungslösung durchspült. So kann das Gewebe für Stunden funktionsfähig erhalten werden. „Dennoch sollte diese Phase so kurz wie möglich gehalten werden, was letztlich nur durch enge, professionelle Kooperation und höchste Routine aller beteiligten Ärzte und Schwestern gelingen kann“, erklärt Professor Humke.

Die Transplantation dauert zwei Stunden

Sobald das Organ entnommen, die Niere durchspült und für transplantationsfähig eingestuft worden ist, wird Eberhard Lieb in Narkose versetzt. Das zweite Team wird aktiv. Die Niere wird zunächst unter permanenter Kühlung für die Transplantation vorbereitet. Dabei müssen die Blutgefäße beweglich gemacht und störendes Fettgewebe um die Niere herum entfernt werden. Danach nimmt Professor Humke die Einpflanzung vor. Hierfür wird im linken Unterbauch ein Zugang geschaffen. Die Eigennieren des Empfängers verbleiben im Körper und werden nur in Ausnahmefällen entnommen. Die geeigneten Stellen an den Beckenblutgefäßen werden ausgesucht, die Niere dann aus dem Eiswasser in die Wundhöhle verbracht und schließlich wird in mikrochirurgischer Technik durch Nähte eine Verbindung zwischen Spender- und Empfängergefäßen hergestellt.
Nun muss es schnell gehen, denn die Niere beginnt sich zu erwärmen. Nach 31 Minuten können die Klemmen geöffnet werden, die Niere wird vom Blut durchströmt und erwacht zu neuem Leben. Die zeitkritische Phase der Operation ist vorbei. In Ruhe werden nach Auffüllung der Harnblase die Harnleiter mit der Niere vernäht, damit der Urin gesammelt und von dort später ausgeschieden werden kann. Der Eingriff dauert gute zwei Stunden.

Gute Ergebnisse nach der OP

Nach der Operation folgt für beide ein stationärer Aufenthalt – allerdings zum großen Bedauern auf getrennten Stationen. Renate Lieb liegt für zehn Tage in der Urologischen Klinik, während ihr Mann zwei Wochen in der Nephrologie aufgenommen wird. „Spender und Empfänger haben unterschiedliche Bedürfnisse und benötigen eine andere medizinische Betreuung. Das wissen wir nun“, sagt Renate Lieb.
Aber in die Reha wollen sie gemeinsam, denn auch Spendern steht die Rehabilitation zu. Doch die Krankenkasse stellt sich quer. Erst als das Paar einen Rechtsanwalt einschaltet, wird der Antrag genehmigt. Drei Wochen erholen die beiden sich gemeinsam von den Operationen, aber auch von den Ängsten und Sorgen.
Professor Schwenger ist drei Monate nach dem Eingriff sehr zufrieden mit dem Ergebnis. „Eine schwere akute Abstoßung der Niere wäre rasch nach der Operation aufgetreten“, sagt er. Da aber auch später Abstoßungsreaktionen durch vom Körper gebildete Antikörper auftreten können, müssen die Patienten ein Leben lang Medikamente einnehmen. Dazu zählen unter anderem Immunsuppressiva und Arzneimittel zur Infektionsprophylaxe.
„Wir müssen es schaffen, die Waage zu halten: die Abstoßung muss verhindert, aber auch das Infektionsrisiko gesenkt werden“, erklärt Professor Schwenger. Das sei nicht immer einfach und viele transplantierte Patienten haben mit schweren Infektionen zu kämpfen. Zudem haben die starken Medikamente Nebenwirkungen. „Das Krebsrisiko steigt, die Gefahr von Übergewicht und Osteoporose nimmt zu. Viele Patienten werden zudem nervös und zittrig.“ Nicht nur deshalb muss der Patient regelmäßig zur Untersuchung. Dabei werden Blut- und Urinwerte kontrolliert und ein Ultraschall von der Niere angefertigt. Alle drei Monate erfolgt eine Untersuchung im Transplantationszentrum, in den Zeiträumen dazwischen beim niedergelassenen Nephrologen.

Wieder Zeit fürs Radfahren und Urlaub

Für den leidenschaftlichen Gärtner Eberhard Lieb kommt eine weitere Umstellung hinzu. Gern hat er gemeinsam mit seiner Frau im Garten gearbeitet – für ihre Kinder haben sie damals  Baumhäuser gebaut. Doch in der Erde befinden sich Bakterien, die gefährlich für ihn sein können. Gartenarbeit ist erst mal nicht erlaubt. „Salat und Erdbeeren sind wegen dieser Bakterien tabu“, sagt Eberhard Lieb. Zudem darf er kein rohes Fleisch oder keine Rohmilchprodukte essen. Aber sonst geht es ihm gut. Die ersten 100 Kilometer hat er schon mit seinem Rennrad absolviert und er erledigt viel im Haushalt. Denn im Hause Lieb ist immer was los. Im Herbst steht dann ein Urlaub mit seiner Frau an. Seit Jahren fahren die beiden mit dem Wohnwagen weg. In diesem Jahr wird es ein besonderer Urlaub - denn ihre Verbundenheit ist noch intensiver geworden.