Stuttgarter Genesungsgeschichten

Unter Strom

Herr Müller

Mit Strom kennt sich Stefan Müller aus. Der über 70-Jährige aus Waldenbuch hat als Fernsehtechniker sein ganzes Leben lang mit Frequenzen, Impulsen und Stromstärken zu tun gehabt.

Daher war für ihn die Entscheidung auch sofort eindeutig, als Professor Dr. Gudio Nikkhah, Oberarzt an der Neurochirurgischen Klinik am Klinikum Stuttgart, ihm die Hochfrequenz Schmerzstimulation für die Behandlung seiner chronischen Rückenschmerzen vorgeschlagen hat.

Bei dieser Behandlung chronischer Schmerzen werden zwei Elektroden eingesetzt und mit einem Schrittmachersystem verbunden. Die Elektroden werden millimetergenau an dem Ort der maximalen Wirksamkeit im Rückenmarkskanal eingebracht und besitzen jeweils acht Kontakte. Über diese Kontakte können Stromimpulse von 10.000 Hertz, die sog. Hochfrequenz- oder „HF-10“-Therapie, abgesetzt werden. Der Schrittmacher wird oberhalb des Gesäßes implantiert. Die Operation erfolgt unter Vollnarkose.
14 Tage lang testen die Patienten selbst, welche elektrischen Kontakte die beste Wirkung erzielen und führen ein detailliertes Tagebuch. „Dort tragen die Patienten ein, wie sie die Intensität der Stromimpulse verändert haben und wie sich das auf das Schmerzempfinden ausgewirkt hat“, erklärt Professor Nikkhah. Für die Rückenmarksstimulation durch einen Schrittmacher kommen Patienten in Frage, die jahrelang unter starken chronischen Schmerzen leiden. „Wenn die multimodale Schmerztherapie nicht mehr ausreicht, ist der Schrittmacher oft das Mittel der letzten Wahl.“ Die Patienten leiden, trotz hoch dosierter Schmerzmittel, durchgehend an massiven Schmerzen, die sie in ihrem Alltag sehr stark einschränken. Ursachen für die chronischen Schmerzen sind Vernarbungen nach Bandscheibenoperationen, periphere Nervenverletzungen oder Rückenmarkserkrankungen. Unter diesen Schmerzen leiden Patienten jeden Alters. Um Schmerzen in den unteren Extremitäten zu lindern, werden die Elektroden zwischen dem achten und neunten Brustwirbel, bei Beschwerden im Oberkörper zwischen dem zweiten und dritten Halswirbel eingesetzt.

Einmaliges Therapieangebot in Stuttgart

Geplant wird der Eingriff zusammen mit einem interdisziplinären Team, zu dem auch Schmerztherapeuten gehören. Nachdem andere konservative Therapiemöglichkeiten für die Patienten ausgeschöpft sind, wird der erste einstündige Eingriff durchgeführt, bei dem die Elektroden eingesetzt und nach außen mit einem Teststimulator verbunden werden. Dann dauert es ein bis zwei Tage bis sich der Effekt einstellt. „80 Prozent der Patienten verspüren schon in dieser Testphase eine deutliche Verbesserung der Schmerzsymptomatik“, sagt Professor Nikkhah.

Bei positivem Ergebnis wird in einem zweiten Eingriff der endgültige Schrittmacher eingesetzt. Die Medikamente können die Patienten meist nach einer entsprechenden Entwöhnungsphase deutlich reduzieren, manchmal sogar komplett absetzen. Denn viele starke Schmerzmittel beeinträchtigen die Wahrnehmung und die Lebensqualität.
Der Schrittmacher hat dagegen keine Nebenwirkungen, lindert aber auch beim Schmerz nur die Wahrnehmung der Symptome. „Der Schrittmacher mit der HF-10-Therapie ist seit über fünf Jahren im Einsatz und die Rückmeldung der Patienten ist sehr gut“, sagt Professor Nikkhah. Verschlechtern sich die Symptome kann die Intensität der Stromimpulse im Laufe der Zeit immer wieder angepasst werden. In der Region Stuttgart ist das Klinikum Stuttgart die einzige Klinik, die diese Schrittmachertherapie durchführt.

Die chronische Hochfrequenz-Stimulation mit 10.000Hz (HF-10) unterbricht die Schmerzweiterleitung vom Ort der Entstehung (z.B. Rücken) zum Gehirn und unterdrückt damit die Schmerzwahrnehmung für den Patienten. Besonders geeignet ist die HF-10 für den chronischen neuropathischen Schmerz, er durch eine Erkrankung oder Schädigung des Nervensystems ausgelöst wird. Zunehmend wird das System aber auch bei anderen Schmerzsyndromen zunehmend eingesetzt. 

Lebenslange Leidensgeschichte


Bevor Stefan Müller mit der „HF-10“-Therapie geholfen werden konnte, durchlebte er eine lebenslange Leidensgeschichte. Seit seiner Jugend leidet er unter  chronischen Rückenschmerzen. Bereits früh muss er ein Korsett mit Stahlstäben tragen, das den Rücken stabilisieren und schützen soll. „Ich habe das Korsett getragen, als ich meine Frau beim Tanzen kennengelernt habe“, erzählt Stefan Müller. Die gewünschte Linderung verschafft das Korsett nicht. Die Schmerzen, vor allem im Lendenwirbelbereich, werden zu Stefan Müllers ständigem Begleiter – meist am Abend und in der Freizeit. Denn wenn er in seinem Beruf eingespannt war, viel gearbeitet hat, dann blieb keine Zeit sich auf die Schmerzen zu konzentrieren. „Ich durfte einfach nicht zur Ruhe kommen, dann hatten die Schmerzen auch keine Chance“, sagt er heute. Stefan Müller hat gern und viel gearbeitet, sich aber auch nicht geschont. Er hat unter anderem die schweren Geräte zur Aufzeichnung von Fernsehsendungen hochgehoben und getragen – obwohl ihm die Ärzte davon strikt abgeraten haben. Die schwere Technik in seinem Arbeitsbereich wiegt aber zum Teil über 30 Kilogramm, die er alleine hebt und trägt. „Heute weiß ich, dass ich mich hätte schonen sollen“, sagt er.
Der bitterste Einschlag folgt aber noch – und es ist nicht der Misserfolg der Behandlung seiner Schmerzen. Es ist der Tag, an dem Stefan Müllers Berufsleben endet.  Er hat gern gearbeitet, am Abend, am Wochenende – sehr zum Leidwesen seiner Frau und der zwei Kinder. Von diesem Tag an aber, hat keine die Ablenkung mehr von den Schmerzen. Im Sitzen kann er vieles noch erledigen, aber beim Anziehen von Socken und Schuhen braucht er nun endgültig die Hilfe seiner Frau. An Spaziergänge ist überhaupt nicht zu denken. „Wenn ich auf dem Bett saß und sich meine Frau sich dazugesetzt hat, ist mir der Schmerz in den Rücken gefahren“, erzählt er.

Verschiedene Verfahren zur Schmerzlinderung

Um die Schmerzen zu lindern, geht er regelmäßig zur Physiotherapie und schöpft dort das gesamte Spektrum der Behandlungsmöglichkeiten aus. Ein paar Jahre lang kann er, mit Hilfe von Schmerzmitteln, so die Schmerzen unter Kontrolle halten. Und doch ist er im Alltag eingeschränkt. Einmal müssen seine Frau und er einen Urlaub in Südtirol abbrechen, weil sich Stefan Müller nicht mehr bewegen kann. Er beißt auf die Zähne und fährt an einem Stück den ganzen Weg zurück nach Waldenbuch. Mehrere Male muss er dann in einer Klinik in Markgröningen behandelt werden. Um die Schmerzen zu lindern, werden dort die Nervenwurzeln infiltriert. „Bei diesem Verfahren wird ein Lokalanästhetikum und ein entzündungshemmendes Medikament wie zum Beispiel Kortison  in den betroffenen Bereich eingespritzt. Die Schmerzweiterleitung wird blockiert und die Entzündung reduziert“, erklärt Professor Nikkhah das Verfahren.

Dreimal wird Stefan Müller so behandelt, erfährt aber nur kurzzeitig Linderung.  Denn er schont sich nicht. Eigentlich ist schon das Hochheben eines Wasserkastens zu viel für seinen Rücken.
Als die Infiltration der Nervenwurzeln keine Wirkung mehr zeigt, gehen die Ärzte einen Schritt weiter und Stefan Müller wird zweimal mit Strom behandelt. Die Nervenwurzeln werden denerviert, das heißt mit Strom verdampft. Denervierung ist die Unterbrechung oder Durchtrennung von Nervenbahnen, um zum Beispiel chronische Schmerzen zu therapieren.
Neben der Denevierung geht Stefan Müller weiterhin zur Physiotherapie, probiert Akupunktur aus und nimmt Schmerzmittel. „Die Menge und Dosis an Schmerzmitteln ist im Laufe der Jahre angestiegen“, sagt er. Irgendwann bekommt er ein Morphinpflaster. Das starke Schmerzmittel beeinflusst aber nicht nur das Schmerzempfinden. Stefan Müller fühlt sich wie unter einer Glocke. Seine Wahrnehmung wird gedämpft und sein Verhalten verändert sich. „Wenn die Wirkung des Pflasters nachgelassen hat, wurde ich unruhig und manchmal aggressiv“, sagt er. Die Veränderungen seines Verhaltens hat er selbst nicht wahrgenommen. Seine Frau aber umso mehr.

Mehrere Operationen

Die stärksten und meisten Schmerzen hat Stefan Müller über all die Jahre im Lendenwirbelbereich. Nachdem die chronischen Schmerzen trotz der Denervierung der Nerven anhalten, werden vor 14 Jahren im Orthozentrum München die Wirbel des Lendenbereichs versteift. Dazu werden die verschlissenen Bandscheiben entfernt und durch Titankörbchen, mit Knochenmateriel aus dem Beckenkamm gefüllt, ersetzt. Die Wirbelkörper werden mit Schrauben und Stangen verbunden. Von da an ist die Beweglichkeit im Lendenwirbelbereich um zwölf bis 15 Grad eingeschränkt. Im Sitzen kann Stefan Müller noch mehr Bewegungen ausführen, als im Stehen oder Gehen.
Neben der Reduktion der Schmerzen soll der Rücken so auch an Stabilität zurückgewinnen. Doch trotz aller Hinweise der Ärzte und Bitten seiner Frau, gönnt sich Stefan Müller auch diesmal keine Pause und arbeitet immer weiter. Nun muss nach weiterem, mehrmaligem Infiltrieren über den versteiften Wirbeln das sogenannte Co-Flex-Verfahren angewandt werden. Das Co-Flex-Implantat ersetzt die Funktion der Bandscheiben und verhindert so eine übermäßige Kompression der Nerven. Es wird  bei Stefan Müller zwischen den Dornfortsätzen eingesetzt. „Es soll die Bewegungen abfedern und so den Rücken entlasten“, sagt Professor Nikkhah. Doch es lockert sich und müssen wieder entfernt werden.
Nun ist die nächste Option: Erhöhung der Dosis des Morphiumspflasters. Die Schmerztherapeutin sieht für Stefan Müller keine andere Möglichkeit. Doch er weigert sich. Denn dann könnte er nicht mehr Auto fahre und würde noch mehr Selbstständigkeit verlieren. Der niedergelassene Orthopädie überweist ihn nun ins Katharinenhospital.

Schmerzstimulation als letzte Chance

In der Ambulanz schaut sich Dr. Gottlieb Maier, Oberarzt an der Neurochirurgischen Klinik, die MRT-Bilder genau an und hat eine Idee, wie man helfen kann. „So bin ich in Kontakt mit Professor Nikkhah gekommen“, sagt Stefan Müller. Professor Nikkhah erklärt das Verfahren der Hochfrequenz Stimulation und für den Patienten ist sofort klar, dass er dabei ist. „Ich habe genügend Erfahrung mit Strom und Spannungen, und weiß, wie sie wirken“, sagt er. Seine Ehefrau dagegen ist sehr skeptisch und macht sich Sorgen. Für sie ist die Vorstellung von Elektroden am Rückenmark beängstigend. Zudem sieht sie die OP-Risiken für einen über 70-Jährigen. Doch Stefan Müller setzt sich durch. Denn für ihn ist es eine Chance. „Schlimmer konnte es nicht werden“, sagt er. Im November 2016 bekommt er die Elektroden eingesetzt.

Einfach Bedienbarkeit und schneller Erfolg

Und von Anfang an spürt Stefan Müller die Erleichterung. Über eine Fernbedienung kann er die Intensität der Stromimpulse einstellen, je nachdem wie stark die Schmerzen sind. Die Patienten erhalten Unterstützung von der Herstellerfirma. Eine Mitarbeiterin der Firma ist schon während des Eingriffs dabei und unterstützt die Mediziner und Patienten im Anschluss bei der Einstellung der Stromintensität. Und auch nach dem Eingriff und dem Krankenhausaufenthalt kümmert sie sich um die Patienten und ist telefonisch erreichbar. Auf diesem Weg können dann auch Einstellungen am Gerät vorgenommen werden, ohne dass der Patient einen Termin im Katharinenhospital benötigt.

Keine Einschränkungen im Alltag

Die Elektroden können ein Leben lang im Körper verbleiben, einzig die Batterien müssen nach neun Jahren ausgetauscht werden. Der Schrittmacher ist ungefähr so groß wie eine Streichholzschachtel und schränkt die Patienten im Alltag nicht ein. Sport, Reisen oder Auto fahren sind gut möglich. Denn die Hochfrequenz Rückenmarkstimulation hat einen großen Vorteil im Vergleich zur Stimulation mit niedrigen Frequenzen: „Bei den niedrigen Frequenzen tritt häufig ein Kribbel- oder Prickelgefühl, auch Parästhesie genannt, auf. Das Kribbelgefühl überdeckt den Schmerz, schränkt aber auch ein“, erklärt Professor Nikkhah. Auto fahren ist dann zum Beispiel nicht möglich.
Der gelernte Techniker war sehr neugierig und hat sich schnell an den Umgang mit dem Gerät gewöhnt. Einmal am Tag muss er die Batterien aufladen – aber auch das gehört mittlerweile zum Alltag. Von Anfang an hat er sich wohlgefühlt und die Dosis der Schmerzmittel hat sich deutlich reduziert. Die Schmerzen sind nicht vollständig weg. Beim Treppen laufen spürt er seinen Rücken. Doch er steht wieder unter Strom – und fühlt sich viel besser.